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MIROIRS NO. 3 - Im freien Fall vereint

  • Autorenbild: Haiko
    Haiko
  • vor 7 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit


Der Filmtitel bezieht sich auf Maurice Ravels Klavierzyklus "Miroirs" - Spiegelbilder. Im dritten Satz - "Une barque sur l'océan" - treibt eine Barke auf dem Ozean, ausgeliefert den Wellen, mal sanft geschaukelt, mal brutal umhergeworfen. Christian Petzold greift diese Metapher auf und überträgt sie ins Existenzielle: Seine Protagonisten sind solche Barken, die auf dem Ozean des Lebens treiben - ohne Anker, dem Schicksal ausgeliefert.

Laura, eine Klavierstudentin am Ende ihrer Kräfte, verkörpert diese Verlorenheit von der ersten Einstellung an. Ihr Freund will partout einen Wochenendausflug mit einem befreundeten Pärchen machen, doch die junge Frau kann nicht mehr. Will nicht mehr. Etwas in ihr ist zerbrochen - ihre Beziehung, ihre Seele, vielleicht beides. Als er sie genervt zum Bahnhof karren will – sie regelrecht abschütteln möchte wie lästigen Ballast –, um endlich ungestört mit seinen Freunden feiern zu können, nimmt das Schicksal eine brutale Wendung: Ein Autounfall im Berliner Umland. Ihr Freund stirbt. Sie überlebt - äußerlich unversehrt, doch innerlich zerschmettert.

Die schicksalhafte Begegnung

Betty, die im Nachbargarten gearbeitet hat, an dem sie schon zweimal mit dem Auto vorbeigefahren sind, hat alles gesehen. Die fremde Frau nimmt die Studentin auf, die partout kein Krankenhaus will. Was folgt, übersteigt jede normale Begegnung: Zwei Frauen erkennen sich auf einer Ebene, die Worte überflüssig macht. Als hätte das Schicksal sie füreinander bestimmt. Betty umsorgt den Gast mit einer Intensität, die weit über gewöhnliche Fürsorge hinausgeht. In der jungen Frau scheint sie etwas wiederzufinden, was unwiederbringlich verloren schien.

Filmbild aus MIROIRS NO. 3

Der getrennt lebende Ehemann Richard und Sohn Max kommen aus ihrer Werkstatt zum gemeinsamen Essen vorbei, scheinbar nach unzähligen Tagen zum ersten Mal wieder. Ein später Sommernachtstraum beginnt - doch etwas stimmt in dieser eh schon komischen Idylle nicht.

Beunruhigend ist nicht nur Lauras emotionale Kälte gegenüber dem Tod ihres Freundes. Auch zwischen Richard, Betty und Max wabert etwas Unausgesprochenes, das schwerer wiegt als Worte. Unter der Oberfläche lauert ein Abgrund. Ein unaussprechlicher Schmerz verbindet diese Menschen, die sich wie Ertrinkende aneinander klammern. Denn manchmal ist eine schöne Lüge die einzige Rettung vor dem endgültigen Untergang.

Kleists Torbogen - Die Poetik des Fallens

Christian Petzolds neuer Film schöpft aus den Abgründen des Lebens – aus verletzten, trauernden, verzweifelten Existenzen. Der Regisseur, längst eine der prägenden Stimmen des deutschen Gegenwartskinos, umkreist große Themen wie Verlust, Schmerz und Unterstützung.

Die Inspiration kam von Heinrich von Kleist. In einem Brief schildert dieser eine schlaflose, verzweifelte Nacht. Ruhelos läuft er durch die Straßen, will aus der Stadt hinaus. Unter dem Stadttor bleibt er stehen, blickt nach oben – und erkennt: Die Steine des Torbogens wollen alle fallen. Doch gerade im Fallen verkanten sie, stützen so einander, bilden den schützenden Bogen.

Genau diese Metapher macht Petzold zum Herzstück seines Films. MIROIRS NO. 3 wird selbst zu einem solchen Torbogen – ein Schutzraum im Unglück. Da ist Laura, eine junge Frau am Ende ihrer Kräfte und eine Familie, die an einem ungenannten Trauma zu zerbrechen droht. Einzeln würden sie fallen. Doch gemeinsam, in ihrer geteilten Verzweiflung, stützen sie einander.

Paula Beer - Die Kunst der inneren Leere

Nach TRANSIT, UNDINE und ROTER HIMMEL vertraut Christian Petzold erneut auf Paula Beer. Als Laura verkörpert sie eine Frau, die bereits vor dem Unfall innerlich gestorben zu sein scheint. Die Eröffnungssequenz macht das überdeutlich: Laura auf einer Brücke, unter ihr ein Stand-up-Paddler. Sie bewegt sich durch die Welt wie durch einen Traum, abgespalten, nicht mehr wirklich anwesend. Der Tod umgibt sie bereits, bevor er zuschlägt.

Der Autounfall, der ihren Freund das Leben kostet, wirkt paradoxerweise wie eine Wiedergeburt für Laura. Betty nimmt die Verletzte auf – und was folgt, ist eine Überdosis an Fürsorge. Die beiden Frauen kennen sich nicht, und doch entwickelt sich eine Intimität, als hätten sie eine gemeinsame Geschichte. Betty bringt Laura zu Bett, erzählt Gutenachtgeschichten, serviert Frühstück, führt sie durch den Kräutergarten. In wenigen Tagen durchleben sie eine komplette Mutter-Tochter-Biografie im Schnelldurchlauf.

Filmbild aus MIROIRS NO. 3

Die zerrüttete Familie

Richard und Max, Vater und Sohn, betreiben eine Autowerkstatt im Berliner Umland. Die Landschaft hier trägt die Spuren der Geschichte: weite Felder, dazwischen die Relikte der DDR – ein alter Traktor, Schrottautos, provisorische Unterkünfte. Die beiden Männer können alles reparieren, nur nicht ihre eigene Familie.

Beim ersten gemeinsamen Essen wird die Spannung greifbar. In der Küche klappert es hinter verschlossenen Türen. Am Tisch steht ein Gedeck zu viel – oder ist es genau richtig so? Die Familie tauscht fragende Blicke. Petzold arbeitet hier meisterhaft mit Perspektivwechseln: objektive Einstellungen treffen auf subjektive Wahrnehmungen. Denn eine Familie besteht meist aus beidem – aus harten Fakten und weichen Gefühlen.

Der Name, der alles verändert

Richard spürt die Irritation, die Laura auslöst, erkennt aber auch: Seine Frau lebt wieder auf. Vorsichtig nähern sich die Eheleute wieder an. Nur Sohn Max wehrt sich gegen den Eindringling, ahnt die Gefahr dieser Konstellation. Dann der Moment, in dem alles kippt: Betty nennt Laura versehentlich "Jelena". Ein Name fällt, und mit ihm die Masken. Die Vorzeichen ändern sich. Was als Rettung begann, entpuppt sich als gefährlicher Tanz auf dem Vulkan der Vergangenheit.

Fazit: Mit MIROIRS NO. 3 beweist Christian Petzold erneut, warum er zu den wichtigsten Regisseuren des deutschen Gegenwartskinos zählt. In nur 86 Minuten erzählt er von Verlust und Neuanfang, von der Unmöglichkeit zu trauern und der Notwendigkeit loszulassen. Das exzellente Ensemble um Barbara Auer, Matthias Brandt und Enno Trebs wird angeführt von Paula Beer in einer Rolle von zerbrechlicher Intensität. 

Der Film entlässt einen nicht einfach aus dem Kino – er bleibt haften, arbeitet weiter, stellt Fragen. Ein leiser Film, der beweist: Die größten Geschichten brauchen oft nur die kleinsten Gesten. Es ist diese paradoxe Wahrheit, die Petzold so meisterhaft inszeniert: Manchmal können nur andere Verlorene uns auffangen. Manchmal entsteht Halt erst im gemeinsamen Sturz.


Welcher Film hat Euch zuletzt so berührt, dass Ihr noch Tage später darüber nachdenken musstet? Erzählt von Eurer letzten Kinoperle!



Filmposter von MIROIRS NO. 3



Bilder und Trailer: © Piffl Medien GmbH

1 Kommentar


Manfred Mustermantz
Manfred Mustermantz
vor 13 Stunden

Der letzte der mich auch noch länger beschäftigt hat, wenn auch mit Verzögerung war "In die Sonne schauen". Wenn man da den Kontext mal vollkommen erfasst hat, so 1-2 Stunden nach dem Film.

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