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DIE DOLMETSCHERIN - Wo die Vergangenheit Gericht hält

  • Autorenbild: Haiko
    Haiko
  • vor 15 Stunden
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 2 Stunden


In diesem Jahr jährt sich der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zum 80. Mal. Was damals als historische Zäsur begann, erscheint heute beklemmend aktuell.


Als die Alliierten nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs zusammenkamen, einten sie sich in einem revolutionären Gedanken: Die Verantwortlichen sollten persönlich für ihre Taten einstehen müssen. Titus Müller beschreibt in seinem Nachwort zu seinem neuesten Roman DIE DOLMETSCHERIN eindrücklich, wie bahnbrechend dieser Moment war. Jahrhundertelang hatten Herrscher Kriege geführt, Völker vernichtet – ohne jemals Rechenschaft ablegen zu müssen. Das Nürnberger Tribunal beendete diese Ära der Straflosigkeit.


Robert H. Jackson, der visionäre US-Hauptankläger, hatte bereits 1941 erkannt, dass Angriffskriege Verbrechen gegen die gesamte Menschheit darstellen. In Nürnberg wurde erstmals der Rechtsbegriff "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" definiert – ein juristischer Meilenstein. Die Nürnberger Prozesse mündeten letztendlich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 und den Genfer Konventionen 1949.


Achtzig Jahre später kehrt der Angriffskrieg nach Europa zurück. Während unsere Schlagzeilen von der Ukraine und dem Nahostkonflikt dominiert werden, verblassen andere Tragödien im toten Winkel unserer Aufmerksamkeit: Sudan, Myanmar, die Sahelzone – die Liste des Grauens will nicht enden. In diese von Kriegen zerrissene Gegenwart hinein erzählt Titus in DIE DOLMETSCHERIN von 1945 – und trifft einen Nerv.


Die Macht der unmöglichen Liebe


Wie schon in seiner Spionin-Trilogie um die DDR-Bürgerin Ria Nachtmann, die sich in den West-Journalisten Jens verliebt, oder in NACHTAUGE, wo Lagerleiter Georg Hartmann sich 1943 in die ukrainische Zwangsarbeiterin Nadjeschka verliebt, webt Titus auch hier eine unmögliche Liebe in den Stoff der Geschichte. Es ist das Herzstück seiner Romane: Zwei Menschen, die nicht zueinander finden dürfen – und sich dennoch nicht voneinander lösen können.


Asta – Eine Frau mit Geheimnis


In diese historische Stunde null platziert Titus seine Protagonistin Asta. Sie kommt aus Amerika nach Mondorf-les-Bains, wo die US-Armee die Nazi-Größen interniert hat. Als deutsche Emigrantin beherrscht sie beide Sprachen perfekt – die ideale Voraussetzung für eine Dolmetscherin bei den Verhören. Doch ihr misstrauischer Vorgesetzter will sie mehrmals loswerden, spürt instinktiv, dass mit dieser forschen Frau etwas nicht stimmt. Asta kämpft verbissen darum, diese Position zu behalten. Aber warum ist es ihr so wichtig, ausgerechnet hier zu dolmetschen, ausgerechnet für diese Männer?


Als am 20. Mai 1945 Hermann Göring mit 16 Koffern, einer roten Hutschachtel und seinem Kammerdiener eintrifft, verrät nichts in Astas Gesicht, was in ihr vorgeht. Doch innerlich bebt sie – dieser Moment, auf den sie gewartet hat, ist endlich gekommen. Irgendetwas aus ihrer Vergangenheit scheint sie an diesen Ort zu ketten, und Görings Ankunft bringt sie ihrem wahren Ziel einen entscheidenden Schritt näher. Zwischen den Verhören begegnet Asta Leonhard, einem deutschen Gefangenen, der zum Putzdienst eingeteilt ist. Trotz der Spuren des Krieges macht er ihr sanft den Hof – doch seine Vergangenheit ist undurchsichtig.


In Nürnberg wird Geschichte geschrieben


In den ersten Wochen gehen alle davon aus, dass der große Prozess in Berlin stattfinden wird – in der zerstörten Hauptstadt des besiegten Reiches. Doch dann steckt ihr jemand eine brisante Information zu: Nürnberg wird der Ort des Tribunals. Asta gehört zu den ersten, die davon erfahren. Nürnberg – ausgerechnet die Stadt der Reichsparteitage und der "Rassegesetze". Die Symbolik ist von brutaler Eleganz: Wo die Nazis ihre Macht zelebrierten, sollen sie nun zu Fall gebracht werden.


Als die Prozesse tatsächlich dorthin verlegt werden, beginnt für Asta der härteste Teil. Mit akribischem Blick zeichnet Titus das Innenleben des Gerichtssaals: Die neue Simultantechnik, die Dolmetscher unter Höchstdruck. Asta wird zur Stimme für Ankläger und Angeklagte gleichermaßen.


Was im Gerichtssaal zur Sprache kommt, sprengt jede Vorstellungskraft. Massenerschießungen werden protokolliert, Filmaufnahmen aus Konzentrationslagern flimmern über die Leinwand – Bilder, die selbst Militärs erbleichen lassen. Auf der Anklagebank: Die Elite des NS-Regimes. Hermann Göring, Reichsmarschall und selbsternannter Nachfolger Hitlers. Rudolf Heß, der "Stellvertreter". Karl Dönitz, Großadmiral der gefürchteten U-Boot-Flotte. Albert Speer, der Architekt gigantomanischer Reichsträume. Joachim von Ribbentrop, der das Außenministerium zur Mordmaschine umfunktionierte. Wilhelm Keitel, Hitlers willfähriger Generalfeldmarschall. Ernst Kaltenbrunner, der Mann hinter dem Terror des Reichssicherheitshauptamtes.


Leben in den Trümmern


Parallel dazu entfaltet sich Leos Geschichte im zerbombten Nürnberg. Die ausgehungerte Zivilbevölkerung, die aus Brennnesseln und Kartoffelschalen "Mahlzeiten" zaubert. Der Hungerwinter 1945/46, einer der kältesten seit Menschengedenken, mit Temperaturen bis minus 30 Grad. Kohle ist Mangelware – und selbst wer von den Ausgebombten noch das Glück hat, vier Wände und ein Dach über dem Kopf zu haben, kann sie kaum warm halten.


Meisterhaft fängt Titus die schizophrene Stimmung dieser Zeit ein: Viele wollen kein Nazi gewesen sein, sie haben von "nichts gewusst". Gleichzeitig schwärmen manche noch immer von den Paketen, die einst von der Front kamen – französische Seife, belgische Schokolade. Ehemalige Parteibonzen verstecken sich, betteln um Hilfe, versprechen Geld für Unterschlupf. Eine Stadt im moralischen Ausnahmezustand.


Und mittendrin befindet sich Leo. Heimatlos in der eigenen Heimat sucht er Trost bei Asta, der einzigen, die seine Entwurzelung zu verstehen scheint. Zwischen ihnen entwickelt sich eine zaghafte Nähe – doch beide hüten dunkle Geheimnisse. Was sie voreinander verbergen, scheint sie schwerer zu belasten als das, was sie verbindet. Jedes Mal, wenn ein Stück Wahrheit ans Tageslicht kommt, steht ihre fragile Annäherung wieder auf dem Prüfstand.


Fazit: Geschichte, die unter die Haut geht


Wieder beweist Titus seine Meisterschaft darin, Geschichte erlebbar zu machen. Man spürt die Kälte, schmeckt den Hunger, fühlt die eisige Atmosphäre im Gerichtssaal. Besonders eindringlich gelingt ihm das Porträt Hermann Görings – arrogant, manipulativ, ein Meister der Selbstinszenierung. Titus zeigt uns einen Mann, der selbst auf der Anklagebank noch versucht, das Narrativ zu kontrollieren, der seine Ankläger vorführt und die Verbrechen des Regimes mit rhetorischer Brillanz zu rechtfertigen sucht. Ein abstoßendes Schauspiel, das Asta Tag für Tag übersetzen muss.


Natürlich nutzt Titus auch hier die Gelegenheit, seine Expertise im Spionage-Genre unter Beweis zu stellen: OSS-Agenten, CIC-Offiziere und Angehörige des gefürchteten sowjetischen SMERSH ("Tod den Spionen") kreuzen Astas Weg. Was wie ein konstruierter Agentenkrimi wirkt, war tatsächlich die Realität der Nachkriegszeit – ein Tummelplatz der Geheimdienste, die alle ihre eigenen Ziele verfolgten.

Was Titus hier besonders gelingt: Er zeigt, dass keine Nation ihre Unschuld bewahrt hatte. Die Amerikaner mit ihrer Behandlung der Schwarzen und Indigenen, die Sowjets mit dem Massaker von Katyn, bei dem der sowjetische Geheimdienst NKWD 1940 systematisch 22.000 polnische Kriegsgefangene ermordete. Titus verwebt diese Querverweise gekonnt in seine Geschichte, ohne mit dem Finger zu zeigen – die Verbrechen der Nazis relativiert er damit keineswegs, sondern zeichnet ein komplexeres Bild der Zeit. Und im Nachwort erfährt man: Das Unglaubliche ist wahr. Die Figuren haben reale Vorbilder, die Ereignisse sind verbürgt.


Mein Highlight: Er verzichtet darauf, das Ende der Prozesse zu erzählen. Wie bei der Titanic kennen wir den Ausgang – die Spannung liegt im Weg dorthin.


DIE DOLMETSCHERIN ist Geschichtsunterricht der besten Art: packend wie ein Thriller, präzise wie eine Dokumentation, und dabei zutiefst menschlich. Asta hätte übersetzen müssen: "Well done, Mister Müller!"


Buchcover von DIE DOLMETSCHERIN



Buchcover von DIE DOLMETSCHERIN



Buchcover von DIE DOLMETSCHERIN

Bilder: © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

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