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Nikolas Friedrich

Ein neues Gangster-Epos? - THE IRISHMAN


Inhalt:

Mafioso Russell Bufalino (Joe Pesci) nimmt in den 1950er Jahren den Kriegsveteranen und Lastwagenfahrer Frank Sheeran (Robert De Niro) unter seine Fittiche. Der vom Zweiten Weltkrieg in Gewalt erprobte Sheeran steigt schnell zum waschechten Gangster auf. Schließlich wird er von Bufalino zur rechten Hand von Jimmy Hoffa (Al Pacino) ernannt, seinerseits Kopf der Gewerkschaft der Lastwagenfahrer und nach dem US-Präsidenten zweitmächtigster Mann der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Freundschaft, die sich zwischen den beiden Männern entwickelt, wird auf die Probe gestellt, als die Beziehung zwischen Mafia und Gewerkschaft zu bröckeln beginnt. Die Ermordung John F. Kennedys im Jahr 1961 treibt einen Keil zwischen beide Parteien und Sheeran findet sich plötzlich zwischen den Fronten wieder. Eine Entscheidung muss getroffen werden.


Kritik:

Dreieinhalb Stunden geht der neue Film von Martin Scorsese. Netflix macht es möglich. Nicht nur die Laufzeit, sondern auch den Film selbst. In das Gangsterepos des Oscar-prämierten Regisseurs finanziell zu investieren, war kein großes Studio bereit. Superhelden- und Sternenkriegsabenteuer verstopfen weltweit Multiplexsäle, die Geschichtenerzähler des Kinos flüchten scharenweise zu Streamingdiensten. Zurzeit wird diskutiert, ob Marvel-Filme echtes Kino oder nur Vergnügungsparkfahrten seien. Scorsese selbst stieß diese Diskussion los. Nun fühlte er sich dazu berufen, seine Äußerung zu spezifizieren. Die Marvel-Filme seien Ausdruck eines konsumistischen Kinos und eines konsumistischen Kinos allein; ein Kino, das Filme hervorbringe, die wiederholt geprüft und modifiziert werden, bis sie eine ganz bestimmte Publikumslust zu befriedigen imstande sind. (1.) Drei Stunden ging das vorerst letzte Avengers-Abenteuer - der jetzt erfolgreichste Film aller Zeiten.


Im Kino von Martin Scorsese aber ging und geht es immer nur um Menschen. Um die Komplexität von Menschen und ihre widersprüchliche, zuweilen paradoxe Natur; wie sie sich lieben und verletzen und irgendwann selbst ins Auge blicken (müssen). (2.) THE IRISHMAN begann seine limitierte Kinoauswertung in den USA am 1. November 2019, drei Tage bevor Scorsese das Essay in der New York Times veröffentlichte. Seinen Text möchte man beinahe als Begleitbroschüre zum Film verstehen. Denn "The Irishman" ist der exemplarische Ausdruck dieses Kinos, für das Scorsese einsteht. Hauptattraktion des Films sind immer Frank Sheeran (Robert De Niro), Jimmy Hoffa (Al Pacino) und Russell Bufalino (Joe Pesci). Die Schauspieler, zu denen wir hinaufschauen; und die Figuren, an die sie ihre Körper verleihen. Der Mensch, ob auf dem Papier oder in Fleisch und Blut, ist das Herz dieses Kinos. Der Film versichert: Noch schlägt es.


Drehbuchautor Steven Zaillian entwirft zwischen diesen Figuren eine Konfliktdynamik, aus der der Film den Großteil seiner Qualitäten speist. Immerzu hängt man als Zuschauer an den Lippen der Figuren, sucht in den digital verjüngten oder alt geschminkten Gesichtern nach den kleinsten Regungen. "The most interesting and exciting thing in the whole world [is the] human face", hat Scorsese einmal gesagt. Nachdem man dreieinhalb Stunden zu den überlebensgroßen Gesichtern von DeNiro, Pacino und Pesci hinaufgeschaut hat, versteht man wieder warum. Wir schauen in diese Gesichter und versuchen zu erkennen, wie Sympathien entstehen und sich verschieben, Entscheidungen erst erwägt und dann getroffen werden. Wir sind gebannt von donnernden Wutausbrüchen, herzlichen Liebesbekundungen und schweigsamer Solidarität. Jede Geste und jedes Wort steht im Dienst sich wandelnder Beziehungsdynamiken. Menschlicher kann ein Kino kaum sein.


Erzählen tun Zaillian und Scorsese all das im Rahmen der Lebensgeschichte Sheerans, die irgendwo durchaus Aufstieg-und-Fall-Epos im Stil von "GoodFellas - Drei Jahrzehnte in der Mafia", "Casino" oder "The Wolf of Wall Street" ist, eine so konkrete Zuschreibung, einfach nur Selbstemulation zu sein, aber auch sanft verweigert. Die erste Stunde lang ist "The Irishman" nur Montage und Voice-Over; mit Mafiosi, die Häuserblocks regieren und sich direkt ans Publikum wenden; mit freeze frames und Texttafeln, die ins Bild krachen und uns darüber aufklären, welche Figur "Skinny Razor" und welche "Crazy Joe" genannt wird. Es ist eine Freude, Scorsese wieder das machen zu sehen, was er augenscheinlich am besten kann, vor allem da in seine Regie (und den Schnitt von Stammcutterin Thelma Schoonmaker) eine spürbare Altersmilde Einzug gehalten hat. Die passt ganz wunderbar in das thematische Konzept von Zaillians Drehbuch. Scorsese ist mit seinen Gangstern alt geworden.


Dementsprechend ist "The Irishman" von einem altersweisen Humor durchsetzt, der in den gewalttätigen Interessenkonflikten von Gewerkschaft und Gangsterviertel längst einen Sandkastenkrieg erkannt hat, in dem große Jungs mit hochentzündlichen Bauklötzen spielen. Die Texttafeln etwa nehmen spitzzüngig die gewaltsamen Tode der auf ihrem Karrierehoch operierenden Gangster vorweg. Durch diese Leichtfüßigkeit frisst sich mit verstreichender Laufzeit aber ein Gewissenswurm, der die Figuren zunehmend einzuholen droht. Der von Robert De Niro durch alle Phasen seines Lebens verkörperte Frank Sheeran wird zum Vermittler zweier Parteien, mit deren Anführern ihn gleichsam innige Männerfreundschaften verbinden. Dem politischen Werdegang von Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa ist der Mittelteil des Films gewidmet. Ihn geduldig und konzentriert mitzuverfolgen, zahlt sich aus - hier sät der Film alle Emotionen, deren Früchte er im Schlussakt erntet.


Zu sich selbst findet "The Irishman" so richtig erst dann, wenn er sich endgültig als Abgesang auf ebenjenes Subgenre zu verstehen gibt, das (unter anderem) von Scorsese einst zur unabdinglichen Populärkultur erklärt wurde. Beinahe dreißig Jahre sind vergangen, seitdem er Henry Hill (Ray Liotta) in das Zeugenschutzprogramm seines Gangster-Ruhestands schickte und ihm ein Bild immerwährender Angst vor dem Vergeltungsschlag mit auf den Weg gab. Vielleicht ist es Scorseses fortgeschrittenes Alter, das ihn nun zurück in die Arme der italienischen Mafia getrieben hat. Vielleicht ist es auch das, was ihn zwingt, dieses Mal bis ganz zum Schluss zuzugucken. Die einer epischen Erzähllogik folgende, in zig verschiedenen Zeitebenen aufgefädelte Lebensgeschichte von Frank Sheeran wird unter Scorsese zum tragischen Requiem für den Gangsterfilm selbst.


Familiäres Terrain wird zum dramatischen Hauptschauplatz ausgerufen. Die Loyalität gebietende Ideologie, der Sheeran sich verschreibt, schickt ihn auf einen Kollisionskurs mit dem eigenen Gewissen. Die überlange Laufzeit gibt den fatalen Entscheidungen, die er trifft (nie: treffen muss) und dem schmerzhaften Epilog, in dem Scorsese ihn schlussendlich ankommen lässt, viel Raum zum Atmen. So bitter, so reuevoll, vor allem aber so ausgiebig hat Scorsese seine Gangster noch nie die eigene Vergangenheit ausbaden lassen. Am Ende zeugen von ihr nur noch verblichene Fotos und entfremdete Töchter. Solche Figuren zu glorifizieren ist einfach, sie zu verdammen noch einfacher. Dass Scorsese ihre Taten für sich sprechen lässt, auf unmissverständliche Gesten ob ihrer Richtig- oder eben Falschheit verzichtet, zeugt einmal mehr von seinem innigen Vertrauen in die eigene Zuschauerschaft. Die Tür zu ihr wird vielleicht deshalb am Ende nicht ganz geschlossen.


Fazit:

Dreieinhalb Stunden geht der neue Film von Martin Scorsese. Obgleich nicht jede Minute immer packend, nicht jede Szene immer unmittelbar notwendig erscheint, möchte man im Nachhinein keine einzige missen. Inmitten hitziger Debatten um eine Definition kontemporären Kinos erinnert ein Großmeister daran, wie aufregend das menschliche Gesicht sein kann. "The Irishman" ist hinweg über die süße Versuchung des Gangsterlebens, verabschiedet glorreiche Mafiamythen in einen Ruhestand, in dem nur noch der Zerfall von Körper und Seele wartet. In einem Flashback zu Beginn des Films überwacht Frank Sheeran zwei deutsche Soldaten, die ihr eigenes Grab ausheben müssen. Er wundert sich über ihren Eifer, als würden sie hoffen, für ihre gewissenhafte Arbeit doch noch belohnt und am Leben gelassen werden. Nachdem sie fertig sind, erschießt Sheeran beide ohne zu zögern. And that's that. (NF)



Trivia und Fun-Facts:

- Für Al Pacino fühlten sich die Prozesse der Dreharbeiten an "The Irishman" wie in den 1970ern Jahren an

- Nach "Casino" aus dem Jahre 1995 ist dies der erste Film von Martin Scorsese, in dem Robert De Niro eine Hauptrolle übernahm

- Wenn es nach Robert De Niro gegangen wäre, hätte der Film den gleichen Titel wie der True-Crime-Report von Charles Brandt bekommen, der als Vorlage für das Drehbuch von Steven Zailian diente: "I Heard You Paint Houses."

- "The Irishman" hatte 106 Drehtage, den längsten Drehplan in der Karriere von Martin Scorsese




 


 

Bilder und Trailer: © Netflix

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