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AutorenbildHaiko

BERLIN - DIE SINFONIE DER GROSSTADT - Stummfilmkino im Ballhaus Wedding


Die heutige Veranstaltung zieht mich in den Berliner Bezirk Wedding. Der Straßenverkehrslärm ist auch nach dem Feierabendverkehr noch ohrenbetäubend. Die Straßenbahn rumpelt, quietscht und spuckt mich schließlich in einer Traube von Menschen wieder aus. Weiter geht es zu Fuß Richtung Wriezener Straße, eine Seitenstraße der Osloer. Der Geräuschpegel verringert sich schlagartig und man fühlt schon fast die Zeit, wie es hier noch vor gut 30 Jahren gewesen sein musste, ohne Durchfahrtsverkehr und ohne Tram, die West und Ost verband. Denn nur 10 Gehminuten von meinem Ziel, dem Ballhaus Wedding entfernt, gute 750 Meter von hier verbindet die Bösebrücke die Ortsteile Gesundbrunnen und Prenzlauer Berg. Nach dem Bau der Berliner Mauer teilte unterhalb der Brücke ein stacheldrahtgekrönter Drahtgitterzaun den Französischen Sektor vom Sowjetischen. Auch wenn die DDR oberhalb einen Grenzübergang errichtete, war für viele Leute hier Endstation. Fälschlicherweise oft als Bornholmer Brücke bezeichnet, wurde die Stahlbrücke 1916 als Hindenburgbrücke eröffnet und erhielt 1948 nach dem kommunistischen Widerstandskämpfer Wilhelm Böse ihren jetzigen Namen.



Noch ganz andere Zeiten hat das Ballhaus Wedding erlebt. Noch vor der DDR, vor dem Zweiten und sogar noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde dieser wunderbare Ort 1889 erbaut. Auf dem Parkettboden, der nun im Wintergarten des Ballhauses liegt, tanzte sogar schon die echte Marlene Dietrich in DER BLAUE ENGEL im Filmstudio Babelsberg. Als neuer Kultur- und Veranstaltungsort eröffneten die jetzigen Mieter dieses Jahr neu. Von Außen nicht sofort zu erkennen, nutzt man nahezu einen ganz normalen Hauseingang, um zum Ballhaus zu gelangen. Neben dem Ballsaal bietet der Veranstaltungsort viele kleine Räumlichkeiten für Theater, Varieté, politische Talkrunden und Lesungen. Heute steht eine Stummfilm-Vorführung mit Live-Klavierbegleitung an: BERLIN - DIE SINFONIE DER GROSSTADT.


Nicht nur durch das tolle Ambiente des Ballhauses, sondern auch durch das musikalische Erlebnis aus Bild und Ton, erwachen heute hier die 1920er Jahre wieder zum Leben. In Kooperation von Laufende Bilder e.V. und dem Metropolis Orchester Berlin zeigte das Ballhaus Wedding den monumentalen Film Walter Ruttmanns aus dem Jahre 1927. Der experimentelle Dokumentarfilm feierte seine Uraufführung in Berlin mit einem siebzigköpfigen Orchester. Da Walter Ruttmann die Reaktionen des Publikums fürchtete, war er nicht zugegen und gastierte lieber in der Nähe in einer Bar und gab sich einem Besäufnis hin. Die Angst war unbegründet. Nicht nur das Publikum feierte den Film, sondern auch die damals führende und erste deutsche Kinofachzeitschrift „Der Kinematograph“ geriet ins Schwärmen. Die Begeisterung für den Film hält bis heute an. Auch wenn sein experimentelles Schaffen einen leichten Schatten erhielt, als er sich 1933 nach der Machtübernahme Hitlers den Konventionen der nationalsozialistisch geprägten UFA hingab. Rottmann experimentierte beim Schnitt und gerade das Gespür für Rhythmus inspirierte Leni Riefenstahl. Er drehte folglich nur noch nationalsozialistische Kriegspropaganda. 1941 verstarb er nach einer Operation an den Folgen einer Embolie. Sein Erbe ist aber präsent. Wer die Serie BABYLON BERLIN schaut, sieht im Vor- und Abspann die avantgardistischen Formexperimente Ruttmanns.



Mit einer ausführlichen und nett gestalteten Einführung des Stummfilm-Experten Christopher Scholz startete der Abend. Am Klavier begleitete Ekkehard Wölk den Stummfilm und brachte so ein Hauch des Flairs rüber, wie sich vor 95 Jahren die Premierengäste gefühlt haben mussten. Wölk ist Jazzpianist, Komponist und Arrangeur. Der klassisch ausgebildete Pianist, produzierte für den Deutschlandfunk, dem RRB und dem Bayerischen Rundfunk als Ensembleleiter Kompositionen. Er tritt auf Festivals auf und seit Jahren begleitet er professionell Stummfilme. Das spürt man von Beginn an.


Erst leere Straßen, dann Lichter, Menschen, donnernde Eisenbahnen, Fabriken. Rottmann erzählt mit seinem Querschnittsfilm sachlich das Berlin der 1920er Jahre. Vom Morgengrauen bis Mitternacht. In fünf Akten erfährt der Zuschauer das urbane Leben der wilden Zwanziger. Das Schwarz-Weiß leuchtet umso kräftiger, wenn der weiße Rauch der Dampflokomotive den schwarzen Tunnel ablöst und das ganze Bild erhellt. Ein Leinwandspekatkel von aneinander gereihten Bildern, eingefangen durch versteckte Kameras. Die für die damalige Zeit ungewöhnlichen kurzen Schnitte lassen so die Lebendigkeit, die Hektik spürbar werden. Die Kombination aus Musik und Film lässt die Sinfonie einer Großstadt entstehen. Mag der Film oberflächlich erscheinen und eine soziale Blindheit an den Tag legen, liefert er dennoch beeindruckende Momentaufnahmen einer Stadt im ständigen Wandel.



Berlin - Die Sinfonie einer Großstadt - lebendig und spürbar gemacht durch eine tolle Begleitung am Klavier. Ein Erlebnis, das ich nicht missen mag. Dazu kann geraten werden, Augen und Ohren offen zu halten für die nächsten Veranstaltungen des Vereins Laufende Bilder e.V., des Metropolis Orchesters und natürlich für die nächsten Termine im Ballhaus Wedding. Bilder: © Haiko Kàcserik-Maczek

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